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Illnau-Effretikon – fantastisch unterwegs

Theo, Sanna und die Wunderbrillen

Theo und ich wussten genau, was wir am ersten Tag der langen Sommerferien unternehmen wollten. Einen Tag lang mit dem Bus in Illnau-Effretikon und Kyburg herumfahren.

Theo ist mein bester Freund. Wir gehen ins Eselriet in die Schule, aber nicht in die gleiche Klasse. Mal schlägt Theo vor, was wir unternehmen sollen, mal ich. Mit Theo könnte ich sogar Pferde stehlen.

Das, was Theo und ich an unserem ersten Ferientag vorhatten, hatte mit meiner Tante Marga zu tun. Marga ist nicht nur meine liebste Tante, sondern auch Erfinderin. Besser gesagt, sie ist Computerspezialistin in einem internationalen Entwicklerteam. Das tüftelt immer an verrückten Sachen herum. Gerade hatte Margas Team die Testphase für ein neues Gerät abgeschlossen. Und – jetzt kommt’s! – Theo und ich sollten als erste Menschen auf dieser Welt die neue Erfindung ausprobieren. Marga hatte uns die Geräte samt Gebrauchsanleitung in die Hand gedrückt und – sie hat uns auf die Idee mit dem Busfahren gebracht.

Am Montagmorgen um 9.00 Uhr und bei strahlendem Wetter trafen Theo und ich uns an der Bushaltestelle Eselriet. Als die Nummer 652 Richtung Illnau kam, stiegen wir ein.
Beim Vorbeifahren winkten wir unserem Schulhaus zu.
„Nicht traurig sein“, rief Theo.
„Wir kommen bestimmt wieder!“, rief auch ich.
Gleich nach dem Schulhaus wird die Landschaft weit und leer. Es gibt nur Wälder, Felder und Wiesen.

Während der Fahrt erklärte Theo mir das neue Gerät, das er zu Hause schon zum Laufen gebracht hatte. „Es ist wirklich einfach zu bedienen“, sagte er. „Wir können unsere zwei Brillen kabellos verbinden, damit wir das Gleiche erleben, und so braucht es nur eine Fernbedienung. „Mit dieser Taste startet man das Gerät. Mit den eingebauten Kopfhörern können wir die Geräusche hören.“
„Krass“, sagte ich.

Nach der Station Illnau Bahnhof fuhr der Bus leicht bergan und erreichte bald Horben. Jetzt setzten wir die Brillen auf. Wir trafen in Agasul ein. Da stand ein grosser Sultanspalast, umgeben von Palmen.
„Krass“, sagte ich noch einmal.

Die nächste Haltestelle, „Brauiweiher“, war unser erstes Ziel. Der Bus hielt an. Wir stiegen mitten im Dschungel aus. Das Dickicht war ein Paradies mit Bäumen, Farnen, Lianen und Orchideen. Am Dschungelsee lagerte eine Löwenfamilie, ein Leopard strich vorbei, Flamingos stelzten umher. Wir sahen Giraffen, Nashörner Zebras und Affen. Eine Elefantenmutter mit ihrem Kleinen näherte sich dem Wasser, in dem Nilpferde, Krokodile und auch Enten schwammen. Schlangen wanden sich um die Äste der Bäume, ein Faultier hing faul in einem Baum. Schmetterlinge flatterten. Papageien in allen Farben flogen herum. Sie kreischten, krächzten, sangen und pfiffen durcheinander, und doch brachten alle diese Geräusche eine schöne Melodie zustande.
Theo und ich sassen staunend auf einem moosigen Baumstamm und vergassen die Zeit.

„Der Bus kommt gleich!“, rief ich.
So schön es hier war, wir wollten weiter. Wir hatten an diesem Tag noch viel vor.
Der Bus kam auf der Dschungelstrasse als riesige Raupe angebraust. Der Fahrer sah aus wie ein Ameisenbär.

Der Bus fuhr nun durch üppiges Grün die Strecke zurück, die wir gekommen waren. Die Häuser von Illnau waren nicht zu sehen, der Dschungel hatte sie verschlungen. Erst als wir auf Effretikon zufuhren, liessen wir den Dschungel hinter uns.
Da – welche Überraschung! Unser Schulhaus war ein riesiger, gutmütiger Esel. Auch die anderen Häuser hatten verrückte Formen. Viele standen auf dem Kopf. Es gab Erdhäuser und mit Moos überwachsene Spitztüten, Häuser wie mit Zuckerguss überzogen, Hobbithäuser und futuristisch verschlungene und verschachtelte Konstruktionen. Ein Geschäftshaus hatte gar die Form eines riesigen Einkaufskorbs.
Theo und ich riefen immerzu: „Schau mal dort!“, „wow!, oh!“ und „ah!“, bis wir beim Bahnhof Effretikon ankamen.

Wir stiegen aus und vertilgten an der Haltestelle auf einer Bank sitzend unser Picknick.
Als Nächstes nahmen wir Bus 655 zur Kyburg. 21 Minuten dauert die Fahrt, 12 Haltestellen bis zur Endstation.

Theo und ich sassen hintereinander am Fenster und setzten unsere Brillen auf.
Da verwandelte sich das Zentrum von Effretikon mit einem Mal in eine Grossstadt mit Hochhäusern und Häuserschluchten, durch die sich unser Bus seinen Weg wie durch ein Labyrinth suchen musste. Kapelle Rikon, Grafstal, und schon rasten wir in einem tiefem Canon runter ins Kempttal. Auf der anderen Seite gings rauf nach Ottikon und dann durch eine weite Prärie.

Schliesslich fuhren wir mitten durch ein Westerndorf, es war Kyburg, Endstation der Linie 655. Wir sahen den Sheriff, ein Pferdegespann fuhr vorbei, und zwei Cowboys kamen aus einem Saloon und gingen zu ihren Pferden.

Wir nahmen die Brillen ab und stiegen aus. Sofort war Kyburg wieder das idyllische Dorf mit seinen schönen Fachwerkhäusern. Wir näherten uns Schloss Kyburg und kamen zum ersten offenen Torbogen, darüber zwei gemalte Löwen mit Wappen und der Jahreszahl 1579. Nach dem zweiten Tor standen wir im Burghof. Wir kauften unsere Eintrittskarten an der Kasse des Schlossmuseums und setzten unsere Spezialbrillen wieder auf.

Auf einen Schlag war der ganze Burghof bevölkert. Wir sahen Pferde und Reiter, edle Leute, Knechte und Mägde, Ritter mit Hellebarden, Helme und Brustpanzer, einer von ihnen musste der Kyburger Graf sein. Eine Magd hievte einen Eimer Wasser aus dem Ziehbrunnen. Theo und ich gingen mitten durch das emsige Treiben über den Hof zur Kapelle.
In der Kapelle war eine Feier. In den Bänken sassen Frauen und Männer, vorne die Kinder. Am Altar sprach ein Priester ein Gebet.
„Komm, Sanna“, flüsterte Theo. „Ich zeig dir was.“
„Das geht doch nicht.“ Auch ich flüsterte.
„Doch“, meinte Theo. „Wir sehen alles, aber sie sehen uns nicht.“ Theo tastete nach meiner Hand und zog mich nach vorne zum Altar.
„Schau nach oben“, flüsterte er. Unter der Decke hockten zwei kleine Drachen auf einem Balken. Sie bewegten nur ganz leicht ihre Schwanzspitzen.
Theo und ich nahmen die Brillen vom Gesicht. Da waren wir wieder allein in der Kapelle. Die Sitzbänke und der Platz vor dem Altar waren leer. Die zwei kleinen Drachen gab es aber immer noch – als Deckenmalerei über dem Altar.
Als Theo und ich wieder im Bus 655 sassen und zurück Richtung Bahnhof Effretikon fuhren, schwebte eine Flotte bunter Heissluftballone am Himmel. Und dabei hatten wir die Spezialbrillen gar nicht mehr auf.

Es war ein wunderbarer erster Ferientag! Dank Margas neuer Erfindung, den weissen VBG-Bussen, und all dem, was Illnau-Effetikon und Kyburg zu bieten hatten – und überhaupt!

 

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Gute-Fahrt-Geschichten
Brigitte Schär

Brigitte Schär ist Schriftstellerin, Sängerin, Performerin und Teaching Artist und lebt in Zürich. Sie tritt mit multimedial inszenierten Lese-Performances und Konzertlesungen in der ganzen Welt auf. Ihre Bücher für Kinder und Erwachsene wurden vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Zuletzt erschienen ihr Buch „Unwetter“, schwarze Geschichten für Erwachsene sowie ihr Kinderbuch „Hanna und Leo – von einem anderen Stern“.

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