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Kloten – poetisch unterwegs

Die Klotener Weisstanne Jessica – und wie sie die Welt sieht

Die Existenz eines Baumes ist nicht gerade von Action und Spannung geprägt, um es mal milde auszudrücken. Wenn man es genau nehmen möchte, dann ist Jessica nicht nur ein Baum, sondern eine Weisstanne, die vor über fünfhundert Jahren vom Wind zwischen den Klotener Dorfbrunnen und den damaligen Dorfplatz gepflanzt wurde.

Die mehr als 200’000 Tage und Nächte ihres Lebens sind kaum unterscheidbar, doch die eine oder andere spannende Geschichte prägte sie sich ein und wob sie in ihre Jahrringe.

1647 zum Beispiel passierte etwas ganz Aussergewöhnliches: Der Kyburger Landvogt Johann Heinrich Waser und sein Gaul Paul waren auf der Durchreise. Sie hatten die Mission, die Gemeinde Lufingen vor der Übernahme durch Winterthur zu bewahren. Da sich die Müdigkeit in Johann Heinrichs Knochen bemerkbar machte, band er das alte Pferd beim Dorfbrunnen an, um sich in der Migros einen Kaffee zu holen. Ob es die Migros damals schon gab, weiss Jessica nicht mehr so genau. Wenn man fünfhundert Jahre alt ist, kann es gut vorkommen, dass man ab und zu etwas durcheinanderbringt. Auch ob der Kaffee schon in Kloten angekommen war, kann sie nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Auf jeden Fall ging Johann Heinrich kurz weg.

Ein Abgeordneter aus Winterthur, der sich hinter Jessica versteckt hatte, um den Plan des Landvogtes zu vereiteln, nutzte die Gunst der Stunde und versteinerte das Tier mit Hilfe eines magischen Steines. Noch heute ist der zum Monument gewordene Gaul Paul ein fester Bestandteil des Klotener Stadtbildes.

Natürlich war Johann Heinrich traurig, als er seinen treuen Kumpanen in diesem reglosen Zustand erblickte. Der Kyburger Landvogt aber, fest entschlossen, seine Mission zu erfüllen, machte sich – vom Kaffee beflügelt – zu Fuss auf den weiteren Weg, schaffte es trotz allem pünktlich zu den Verhandlungen und vereitelte das Vorhaben Winterthurs.

Ansonsten ist nicht viel passiert. Jessica erlebte, wie immer mehr Menschen nach Kloten zogen, wie immer mehr Häuser und Strassen gebaut wurden, auch fiel ihr irgendwann auf, dass Kutschen von Autos abgelöst worden waren. Verschiedenste Fahrzeuggattungen liessen das Stadtbild zunehmend turbulenter werden. Busse, Fahrräder und Flugzeuge bekommt Jessica mittlerweile täglich zu sehen und manchmal durchqueren komische Dinge wie fahrbare Rasenmäher oder Mädchen in grossen, glitzernden Hula-Hoop-Reifen ihr Blickfeld.
Auch die Fortbewegungsarten verschiedener Lebewesen faszinieren sie. „Schlangen schlängeln, Vögel fliegen, Menschen gehen und Bäume… Bäume stehen“, denkt sie jeweils melancholisch und wünscht sich, einfach in einen Bus zu steigen, bis zur nächsten Station zu fahren und für einmal ein komplett anderes Bild der Welt zu sehen.

Stattdessen ist Jessica darauf angewiesen, dass die Welt zu ihr kommt. Seit jemand ein Bänkli und einen Stadtplatz vor sie hingestellt hat, geschieht dies immer öfters, und sie lauscht gerne den Gesprächen der Sitzenden. Viele Stadtpräsidenten Klotens haben sich bereits über Mittag mit einem gleichgesinnten Kollegen oder einer gleichgesinnten Kollegin vor Jessica niedergelassen. In den daraus resultierenden Gesprächen bestätigen sie sich meistens gegenseitig in ihren Annahmen und veranlassen Jessica dazu zu denken, dass man – wenn man die Welt verbessern möchte – doch lieber mit Menschen diskutiert, die andere Ansichten haben als man selbst.

Überhaupt verbringt Jessica sehr viel Zeit damit, nachzudenken. „Nachdenken, nachdenken, immer nur nachdenken“, denkt sie dann frustriert. „Das ist doch langweilig!“ Aber darüber, wie langweilig das Nachdenken sei, hat sie in den vergangenen fünfhundert Jahren schon oft nachgedacht. Mittlerweile ist sie sogar so gut im Nachdenken, dass sie ihre Gedanken nicht einmal fertig zu denken braucht, ehe sie weiss, was sie denken würde, wenn sie es denn dächte.

Und so kommt es, dass sie sich den lieben langen Tag Geschichten ausdenkt. Poetische Geschichten über die Welt und wie sie sein könnte, mag sie am liebsten. Die Charaktere, die darin vorkommen, stellt sie sich aus allem zusammen, was ihr Blickfeld schon einmal durchquert hat. So kreuzt sie Tiere mit Maschinen, variiert Grösse, Form und Farbe und verteilt untypische Charakterzüge.

Einer ihrer Lieblingscharaktere ist Theodor. Ein aufrecht gehendes, altes Flugzeug in der Grösse eines Menschen mit Löwenmähne, der von einem elektrischen Rollator abhängig ist und sehnsüchtig an die Zeit zurückdenkt, in der er noch auf Bäume klettern konnte.

Manchmal hat sie keine Lust, etwas Neues zu erfinden. Dann erzählt sie sich ihre Lieblingsgeschichte von Trolley, dem Busfahrer, der seit seiner Pensionierung in einem VBG-Bus lebt, darin sämtliche Länder durchquert und Bedürftige in seinem Fahrzeug übernachten lässt oder sie einfach mitnimmt und an einem schöneren Ort wieder absetzt.

Wenn sie tief in ihre Fantasie eintaucht, dann geht es Jessica gut und sie vergisst ihre Sehnsucht, die Welt zu entdecken. „Vielleicht ist die Welt in meinem Kopf ja schöner als die richtige Welt“, denkt sie dann, und wenn dieser Gedanke mit einem sanften Windstoss einhergeht, dann findet sie es auf einmal ziemlich toll, eine Weisstanne zu sein.

 

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Gute-Fahrt-Geschichten
Fabian Moor

Fabian Moor ist freier Journalist und Musiker. Mit seiner Band „Freelancer“ hat er das Album „Embryo“ veröffentlicht. Seit 2020 tourt er als Strassenmusiker in einem alten Bus durch die Welt.

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