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Regensdorf – zeitlos unterwegs

Die Rückkehr der Zeit

Das Tor ruckelt zur Seite. Wie im Theater, wenn der Vorhang aufgeht. Doch es ist kein Spiel, das hier geboten wird. Es ist die Realität. Die wirkliche Welt, die sich von links nach rechts ins Bild schiebt. Er nimmt die Türkentasche mit dem Karomuster hoch, versucht, sie über die Schulter zu hängen, aber sie rutscht immer wieder ab. Er will sie mit ausgestrecktem Arm tragen, doch der Riemen ist zu lang. Er wickelt ihn mehrmals um die Hand. So, dass es ihm die Finger zusammendrückt.

Das Tor ist jetzt ganz offen. Er schreitet hindurch. Hinter ihm lamentiert eine Krähe oben auf der Mauer. Er blickt zurück, obwohl er das nicht wollte. Sie erschrickt und fliegt weg. «Eingang» steht in grossen schwarzen Lettern über dem Portal. Er schaut wieder nach vorn.

Platanen stehen auf trockenem Grund, das Gras ist braun. Die Blätter flattern wie kleine Hände im Wind und winken ihm zu. Begrüssung oder Abschied? Ein Flugzeug zieht über den grauen Himmel. Als er hier ankam, hat er jeweils nach oben geschaut und sich in den schlanken, glänzenden Stahlkörper gewünscht. Mit der Zeit hat ihn bloss der Lärm geärgert.

Er geht geradeaus bis zur Strasse, biegt nach rechts ab, nimmt den Weg den Platanen entlang. Vorbei am Verkaufsladen. «Brot, Guetzli, Birebrot, Zopf» steht da mit Kreide auf einer Tafel geschrieben – jedes Wort eine andere Farbe. Weiter hinten ein Oleander mit pinken Blüten. Den Mann, der die Blumen wässert, kennt er von der Pause im Hof. Er nickt ihm zu. Der Andere hebt kurz den Kopf und giesst weiter. Er stellt die Tasche ab und sieht ihm eine Weile durch Maschendrahtzaun hindurch zu. Wie er den Schlauch von Pflanze zu Pflanze führt. Ein Zaun zwischen zwei Welten.

Er geht weiter zur die Unterführung. Am Ende leuchtet ein helles Quadrat wie ein Versprechen für die Zukunft. Mit der Zeit bekommt man von den Gittern einen viereckigen Blick, hat ihm vor Jahren ein Kollege gesagt. Er hat es damals nicht geglaubt.

08:27 Regensdorf, Ostring

Er steigt die Treppe hinauf. Die Kreuzung ist eine Baustelle, gesichert mit weissroten Holzbalken, die an Absperrbänder der Polizei erinnern. An der Bushaltestelle steht niemand. Ein Mäusebussard lässt sich vom Wind in die Höhe treiben. Wahrscheinlich derselbe, den er kürzlich von seinem Fenster aus beobachtet hat. Er stellt die Tasche ab. Spürt, wie das Blut wieder in seine Finger fliesst. Er schaut auf den Fahrplan. Doch er hat keine Uhr und sein Handy keinen Strom. Was nützt ein Fahrplan, wenn man nicht weiss, wie spät es ist? Jede Viertelstunde fährt ein Bus. Aber wie lange dauern 15 Minuten? Auf der anderen Strassenseite wirbt der Zoo mit einem Elefanten-Unterwasserballett. Einer der Aufseher hat ihm kürzlich erzählt, er gehe an seinen freien Tagen fast immer in den Zoo. Er stellt ihn sich vor, wie er vor dem Gehege steht und die eingesperrten Tiere beobachtet.

08:39 Regensdorf, Ostring

Irgendwann kommt der Bus. Er ist sich das Warten gewohnt. Dass sich die Zeit ausdehnen kann wie ein elastisches Tuch. Am Anfang hat es sich immer wieder zusammengezogen. Mit der Zeit ist es ausgeleiert. Geduld, das hat er gelernt. Lernen müssen. Und sich nicht über alles aufzuregen. Es ist so, wie es ist. Nicht besser und nicht schlechter. Das war seine Devise. Die letzten Jahre. Er steigt ein, setzt sich auf einen der Sitze mit dem bunten Fleckenmuster.

08:40 Regensdorf, Zentrum

Das Hotel Mövenpick ist ein roter abweisender Klotz. Direkt bei der Bushaltestelle hat es eine Bankfiliale. Eine solche ist ihm damals zum Verhängnis geworden. Er hat sich aber auch blöd angestellt. Als die Frau am Schalter gemerkt hat, dass seine Pistole nicht echt war. Und ihn ausgelacht hat. Er hätte wieder gehen sollen. Aber nein. Man muss etwas zu Ende bringen, wenn man es begonnen hat. Er hat alle in Schach gehalten mit seiner Spielzeugpistole. Bis die Polizei gekommen ist.

08:42 Regensdorf, Obstgarten

Hier gibt es weder Gärten noch Obst. Dafür eine frisch geteerte Strasse mit orangem Mittelstreifen. Der Bus röhrt den Berg hinauf. Er schaut zurück, versucht, durch die Bäume einen Blick zu erhaschen. Jetzt sieht er sie. Den Zaun, die Mauer, die Gebäude. Seine letzten paar Jahre.

08:44 Zürich, Grünwald

Ein Verkaufsstand in Form einer Erdbeere steht am Waldrand, daneben Dahlien und Gladiolen zum selber Pflücken mit einer Kasse. Die haben noch Vertrauen in die Welt, denkt er. Nun fährt der Bus wieder abwärts.

08:45 Zürich, Geeringstrasse

Der Wagen macht einen U-Turn. Einen Richtungswechsel um 180 Grad. Ihm wird leicht schwindlig. Kurz verliert er die Orientierung. Einen Richtungswechsel. Das hat er sich vorgenommen. In welche Richtung genau es gehen wird, weiss er noch nicht. Auf jeden Fall in eine andere.

08:47 Zürich, Riedhofstrasse

Doch noch ein Obstgarten. Die Äpfel werden gerade gespritzt. Dunkle Netze schützen sie vor Vögeln.

08:48 Zürich, Frankental

Endstation. Bevor er in den 13-er steigt, geht er in den Coop. Er kauft sich als Erstes ein kühles Bier.

 

 

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Gute-Fahrt-Geschichten
Sabina Altermatt

Sabina Altermatt (*1966) ist in Chur geboren und aufgewachsen. Heute lebt sie in Zürich. Sie schreibt Kolumnen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Kinder- und Bilderbücher sowie Kriminalromane und Romane. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien.

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