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Rümlang – kosmisch unterwegs

Mission Rum Lang unmöglich

Kommander, wie von Ihnen gewünscht, folgt hier der Bericht über meinen Inspektionsflug 2834B am Tag 241 im Jahr 21449 unserer Zeitrechnung. Lokalzeit: 27. Juli 2018. Landepunkt: 47.739654-8.524591, von den Einheimischen «Sternwarte Rotgrueb» genannt.

Wie wir alle wissen, wurde der erkundete Ort nach unserer ehrwürdigen Obersten Sternenwächterin Rum Lang benannt, da sie den Erstkontakt mit den Erdbewohnern hier herstellte, doch die Menschen sprechen ihren Namen gebunden aus, mit einem für sie typischen, seltsamen Ü-Laut. Auf meiner Beobachtungsmission habe ich keine Hinweise darauf erhalten, dass die Bewohner den wahren Ursprung ihres Dorfnamens kennen oder sich an einen Kontakt mit uns erinnern. Geschweige denn vermuten, dass wir sie schon so lange beobachten.

Natürlich masse ich mir keinerlei Kritik an unserem Obersten Sternenrat an, doch es wurde mir auf meiner Erkundungsmission klar, dass dieses Rümlang für unser Projekt in keiner Weise geeignet ist. Zwar hat sich hier im Lauf der Jahrhunderte tatsächlich ein recht brauchbares Verkehrsnetz entwickelt. Züge und Busse fahren in einem aus unserer Sicht zwar primitiven, für irdische Verhältnisse aber vernünftigen Takt. Tatsächlich ist in den letzten fünfzig Erdjahren ganz in der Nähe ein Flughafen mit täglich rund 800 Flugbewegungen entstanden. Es stimmt zwar: das Dorf ist auf dem Weg dazu, eine Stadt zu werden –allein in den letzten zwanzig Jahren hat sich seine Einwohnerzahl auf 8000 Personen verdoppelt – und es wurde in den letzten sechzehn Jahren kontinuierlich an das übergeordnete Verkehrsnetz angeschlossen. Bestand 1992 noch keine nennenswerte Verbindung in die nächste Grossstadt, steht heute am Dorfbahnhof alle 15 Minuten eine Transportmöglichkeit zur Verfügung.

Kommander, mir ist bekannt, dass gerade diese Verkehrsdichte eines der Hauptkriterien für unsere geplante Raumschiffbasis ist, doch abgesehen davon werden keine unserer Anforderungen, die wir normalerweise an die Umgebung von Planetenprojekten in der geplanten Grössenordnung stellen, erfüllt. Eine Kolonialisierung der Erde von diesem Punkt aus ist unmöglich.

Allerdings ist es sehr verständlich, dass es unserer ehrwürdigen Obersten Sternenwächterin beliebte, gerade diesem Ort ihren Namen zu schenken, denn Rümlang ist… anders. Doch mir scheint, als widersetzte sich das Dorf insgeheim allzu grossen Veränderungen. Lassen Sie mich erklären, wie ich zu dieser Einschätzung gelangte:

Planmässig habe ich das Luftschiff über der Sternwarte stabilisiert. Wie vorausgesehen, waren an diesem Abend wegen der längsten totalen Mondfinsternis in diesem Erden-Jahrhundert alle Blicke nach Süden gerichtet, und hätte doch jemand in den nördlichen Himmel geschaut, hätte er dank der Flirr-Tarnung mein Raumschiff für ein Hitzephänomen gehalten. Auch die Materialisierung des Avatars verursachte keinerlei Aufsehen. Zur Tarnung habe ich eine unscheinbare weibliche Form gewählt und sie mit einem Fahrrad ausgestattet.

Es war ein sirrend heisser Tag. Aus den abgeernteten Getreidefeldern stieg der Geruch nach verbranntem Korn, und die Sonnenblumen in den Feldern liessen ihre Köpfe hängen. Der Platz für die Sternwarte ist ideal gewählt: Hier darf der Blick in die Weite gehen und es wird einem innerlich ganz leicht und hell. Rümlang ist umringt von unberührt wirkender Natur, von kleinen und grösseren Wäldern und Auen. An seinem östlichen Rand wird das Dorf begrenzt von einem träg fliessenden Fluss, an dessen Ufer Angler sitzen. Es gibt hier kaum eine Strasse, an der sich nicht ein Brunnen oder eine kleine Holzbank unter einem schattenspendenden Baum befänden, ganz so, als ob die Bewohner Rümlangs Wert darauf legten, sich jederzeit einen Moment ausruhen zu können.

Mein Avatar verbrachte geraume Zeit im Dorfzentrum. Vom nahen Spielplatz drangen Gelächter und Ballgeräusche herüber. Ein weißer Bus fuhr vor, die vordere Tür ging auf, drei Mädchen sprangen heraus, sie schubsten einander und kicherten. Auf dem nahen Spielplatz standen Frauen in Gruppen, gestikulierend in Gespräche vertieft, aus dem Augenwinkel das Kommen und Gehen ihrer Kleinkinder überwachend. Grössere Kinder rannten kreischend hintereinander her. Ein kleiner Bub, noch wacklig auf den Beinen, stand allein am Rand eines Gebüschs, wo er minutenlang konzentriert etwas vor ihm am Boden betrachtete. Plötzlich blickte er sich erstaunt um, als sähe er seine Umgebung zum ersten Mal. Ob der kleine Bub in diesem Augenblick wusste oder ahnte, dass zwar mehr solcher Tage kommen würden, noch viele mehr, aber auch andere, weniger glückliche? In diesem Moment glaubte ich zu verstehen, was es heisst, ein Mensch zu sein, einen von der Schwerkraft dominierten Körper zu haben, ihn zu fühlen und zu füllen mit Leben und Freude, immer nur einen Moment zum nächsten überblickend.

Kommander, auch wenn es gewiss schwerfällt, ein vor derart langer Zeit vorbereitetes Projekt so kurz vor dem Beginn zu stoppen – ich kann mich nur wiederholen: Rümlang ist nicht geeignet für unsere neue interstellare Raumschiffbasis. Jedoch könnte es sich lohnen, den Ort während der nächsten 100 oder 200 Erdenjahre aus unmittelbarer Nähe zu beobachten und seine Verkehrsentwicklung mitzugestalten. Gerne bin ich bereit, meine jetzige Stellung als Aufklärungsfliegerin aufzugeben und mich dieser nicht weniger wichtigen Aufgabe zu widmen.

 

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Gute-Fahrt-Geschichten
Katrin Piazza

Katrin Piazza war von 2014 bis 2019 Medienverantwortliche der VBG Verkehrsbetriebe Glattal AG und zuständig für die klassischen sowie die sozialen Medien. Davor war sie über zwanzig Jahre lang freie Journalistin und Autorin. Die Mitarbeit am Projekt «Gute-Fahrt-Geschichten» hat ihre Freude am literarischen Schreiben wieder geweckt.

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