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Glattzentrum – modisch unterwegs

Von Kränen, Kurven und Klamotten

Die Glattalbahn und die Mode haben viel gemeinsam. Nicht so sehr äusserlich, wohl aber inhaltlich. Beide suchen sich in zunehmend enger werdenden Räumen ihren Weg und müssen dabei bisweilen ganz schön wendig sein, um zu ihren Kunden zu gelangen. Beide orientieren sich undogmatisch an den Bedürfnissen der Menschen, statt zu versuchen, sie zu erziehen. Und beide sind darum bemüht, es ihren Kunden so bequem wie möglich zu machen. Eine Testfahrt mit der Linie 12 zwischen Zürich-Flughafen und dem Glattzentrum.

Die Reise beginnt unter den Dächern des Bus- und Glattalbahnhofs am Airport Zürich, hinter dem sich auskragend das neue Business- und Shoppingcenter „The Circle“ aufbaut. Hunderte von Kränen ragen in die Luft, es herrscht das wohlkoordinierte Chaos einer Grossbaustelle – ein typisches Motiv für die ganze Gegend, durch die unsere Reise geht. Die Linie 12 fährt ein, die Türen öffnen sich, ebenerdig und schwellenfrei betritt man die klimatisierte Stadtbahn, die sich auf einem geschwungenen Hochtrasse Richtung Balsberg, Glattbrugg und Opfikon weiter bewegt. Auffallend: Die durchgängige, robuste Architektur der Haltestellen – schön ist anders, doch es schafft Identifikation.

 

Kurvenreich führt die Strecke durchs suburbane Gebiet, vorbei an dicht genutzten Parkplätzen, alternden Industriebauten und verspiegelten Bürocentern. An den Haltestellen Glattpark und Auzelg verschwimmt das, was einmal die Stadtgrenze war. In Reih und Glied stehen die neuen Wohnmaschinen am akkurat rechteckigen Wasserbecken des Opfikerparks. Um dem Fluglärm etwas Romantik zu geben, wurden alle Strassen nach Aviatik-Pionieren benannt. Zwischen Auzelg und Wallisellen-Herti sieht man kurz etwas Landwirtschaft, dann wieder Industrie, Gewerbe und Lagerflächen, ab dem Bahnhof Wallisellen auch immer mehr Wohnblocks, die in den letzten Jahren in die Höhe gezogen wurden.

Zwischen Wallisellen und Glattzentrum beschleunigt der Chauffeur sein Fahrzeug wie ein Vorstadt-Jugendlicher seinen getunten Sportwagen – die Schussfahrt auf Eigentrasse hilft der Komposition, die Höhe zu erreichen, um das Gleisfeld der SBB zu überqueren und in luftiger Höhe beim Glattzentrum anzukommen. Die Türen öffnen sich wieder, Dutzende von Menschen steigen aus, um sich in eines der ältesten, bis heute umsatzstärksten Shoppingcenter des Landes zu begeben. 1975, als dieses eröffnet wurde, stand es praktisch auf der grünen Wiese – heute ist es umringt von ambitionierten Neubauten und das Zentrum eines neuen Stadtteils Zürichs. Und waren einst die Gratis-Parkplätze für Autos das wichtigste Standort-Argument des Glattzentrums, so ist es heute auch die Anbindung an den öffentlichen Verkehr, den vornehmlich die VBG abwickeln.

Im Glattzentrum trifft man seit Jahren die gleiche Klientel – abhängig von Tageszeit und Wochentag. Morgens früh die Pensionäre, die im Selbstbedienungsrestaurant der Migros Kaffee trinken; kurz darauf kommen die Mütter mit krähenden Kindern, die Einkäufe tätigen und Freundinnen treffen; zur Mittagszeit die Bürolisten und Handwerker aus den umliegenden Betrieben, die etwas essen; nachmittags und gegen Feierabend die Schüler und Jugendlichen sowie am Samstag ganze Familienclans. Abgesehen von den Schreibtischtätern in ihren blauen Hemden tragen alle, unabhängig von Alter und Geschlecht, die gleiche Kleidung: Bequeme, lässige Freizeitkleidung, sprich: Jeans oder Shorts, Shirts und Pullover, Hoodies und Faserpelzjacken und dazu Sneakers, von älteren Semestern noch immer „Turnschuhe“ genannt, obwohl niemand damit Sport macht.

In den Läden – gefühlt die Hälfte des Glattzentrums belegen Modehändler wie H&M, Zara, Globus, PKZ, Mode Keller oder Marc O’Polo – hängt entsprechend dem Publikum genau diese Kleidung: Bequeme Klamotten, die ganz dem Wunsch nach Komfort und Freizeit-Feeling verpflichtet sind. An Klassik scheint hier niemand mehr ein Interesse zu haben – eine Entwicklung, die man auch anderswo deutlich sieht. Dresscodes und formelle Kleidung haben ausgedient. Für etwas Glamour sorgen die halbteuren Schmuckstücke von Oro Vivo, Swarovski und Pandora. Was dafür umso wichtiger ist: Elektronik! Ob es ein Smartphone, ein neues Tablet, ein Riesen-TV fürs Zuhause oder eine neue Kapsel-Kaffeemaschine ist: An Gadgets und Technik-Schnickschnack mangelt es hier nicht. Die Statussymbole von heute sind eindeutig nicht Marken-Anzüge, Designer-Kleider oder exklusive Handtaschen, sondern coole Sneakers und das allerneuste Smartphone.

Bequem, vernetzt, praktisch, freizeitorientiert, befreit von Konventionen (obwohl im Kern auch wieder sehr konventionell) – im Lifestyle der Kunden des Glattzentrums spiegelt sich der Zeitgeist von heute. Dieselben Qualitäten erkennt man, wie man das Einkaufszentrum nach einiger Zeit wieder verlässt und zum Perron der Glattalbahn zurück schreitet: Der Zwölfer, der hier alle 15 Minuten einfährt, fragt nicht, wer man ist oder was man will, sondern nimmt sie alle bedingungslos auf und spuckt sie genau dort wieder aus, wo sie hinwollen – 4,5 Millionen Mal im Jahr, seit 8 Jahren, Tendenz noch immer steil steigend. So bewegt man die Massen!

Jeroen van Rooijens 10 Regeln für das stilvolle Pendeln

  • Nimm Dir Zeit. Wir alle wollen vorwärtskommen, aber übertriebene Hektik macht die Übung nicht angenehmer.
  • Meide die Rush-hour, um morgens nicht schon völlig zerknittert am Ziel anzukommen.
  • Sag guten Tag. Ein knappes Grüezi oder ein lächelndes Sich-zunicken sollte auch in der urbanen Anonymität drin sein.
  • Schaut zueinander. Hilf Alten, Behinderten, Müttern mit schweren Kinderwagen oder Menschen mit viel Gepäck ohne Aufforderung.
  • Nimm Dich zurück. Besetze nicht mehr als einen Sitzplatz, stell Deine Musik so leise, dass andere sie nicht mithören müssen.
  • Entsorge Deinen Müll. Lass nichts liegen, das Du nicht auch zu Hause auf dem Sofa tolerieren würdest.
  • Lass die Füsse unten. Dass Schuhe nicht auf die Bank gehören, ist klar – aber auch Socken sind eine Zumutung für andere.
  • Nimm den Rucksack ab, wenn Du einsteigst. Sonst drückst Du ihn garantiert jemand anderem ins Gesicht.
  • Wasch Dich, bevor Du losfährst. Du möchtest ja auch, dass andere es tun.
  • Lehne Deinen Kopf nicht ans Fenster. Haarfett am Glas gehört zu den abstossendsten Momenten des ÖV.

 

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Ausflüge & Freizeit#Gute-Fahrt-Geschichten
Jeroen van Rooijen

Jeroen van Rooijen ist Autor und der profilierteste Stil- und Modeexperte der Schweiz. Der diplomierte Modegestalter arbeitete bei diversen Radiostationen und später bei Mode- und Lifestylemagazinen wie Bolero, Annabelle oder GQ. Ab 2003 baute er bei der NZZ das Stilressort auf, lancierte die Luxusbeilage Z und schrieb jahrelang vielgelesene Stilkolumnen, die auch in Buchform erschienen (Hat das Stil?, NZZ Libro). Jeroen van Rooijen ist ausserdem Mitbegründer und Co-Inhaber des Concept Stores Cabinet im Viadukt in Zürich.

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